Komplexität verstehen

Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten hat den Komplexitätsforscher Stefan Thurner (48) zum „Wissenschafter des Jahres 2017″ gewählt. Mit der Auszeichnung wird die Vermittlungsarbeit von Österreichs erstem Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien ausgezeichnet. Die Ehrung wurde Thurner am 8. Jänner 2018 in Wien überreicht.

Bei seiner Arbeit am Institut für die Wissenschaft Komplexer Systeme der MedUni Wien sowie dem von ihm initiierten und geleiteten „Complexity Science Hub Vienna“ (CSH) sei es Stefan Thurner wichtig zu vermitteln, „dass wir mit den vorhandenen Möglichkeiten etwas Vernünftiges machen“. Konkret nennt er etwa die Arbeit an großen Problemen wie Klimawandel, Migration, Ungleichheit, systemische Risiken, Ineffizienzen, Fairness in demokratischen Systemen, etc. „Hier wollen wir etwas verbessern“, so Thurner.

Gemeinsam ist all diesen großen Problemen, dass es sich dabei um sogenannte komplexe Systeme handelt, die man vielfach noch nicht versteht. Das Spannende an der Komplexitätsforschung sei, „dass man jetzt erstmalig die Möglichkeit hat, diese Systeme so zu verstehen, dass man Vorhersagen darüber machen kann, und wenn man das schafft, kann man sie vielleicht sogar früher oder später managen“.

Tools stehen bereit
Big Data ist der Megatrend, der es bereits Suchmaschinen, Social-Media-Networks und anderen erlaubt, Metainformationen zu gewinnen. Diese Firmen ziehen auch immer mehr Fachleute aus der Forschung ab. Umso wichtiger ist es, dass Forscher auf die Leistungen der „Section for Science of Complex Systems“ und des CSH aufmerksam werden, oder sich künftig diesem Gebiet widmen. So werden unter anderem Wirksamkeiten, Wechselwirkungen u.ä. von Medikamenten erforscht, die sich aus (anonymen) Patientendaten herausrechnen lassen. Auch befasste sich eine Studie mit der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Diabetes, eine andere trägt den Titel „A self-organized model for cell-differentiation based on variations of molecular decay rates“.

Jedes komplexe System habe Netzwerke in sich, „und das Verständnis dieser Netzwerke ist die Quintessenz, um komplexe Systeme zu verstehen, wie sich diese dynamisch verhalten, auf Stress reagieren, Robustheit zeigen oder kollabieren“. Erst wenn man wisse, wie Bausteine miteinander in Beziehung stehen, könne man ein System verstehen, sagte Thurner.

Komplexitätsforscher Stefan Thurner wurde als „Wissenschafter des Jahres 2017″ ausgezeichnet: Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten ehrt damit den Inhaber des ersten Lehrstuhls für Wissenschaft Komplexer Systeme in Österreich. | Foto: Roland Ferrigato

In den klassischen Naturwissenschaften habe man bisher immer nur mit wenigen Bausteinen umgehen können, weil man weder die Computerleistung noch die dahinter steckenden Daten gehabt habe. Mittlerweile gibt es beides und „sehr viele Datensätze kann man als Netzwerke darstellen. Sobald sie in dieser Form sind, kann man wissenschaftlich damit umgehen, kann man Mathematik verwenden, um diese Systeme zu beschreiben und Fortschritte zu machen“.

Auch wenn die großen Datenmengen („Big Data“) zu den Grundlagen der Komplexitätsforschung zählen, „wollen wir diese nicht verwenden, um etwa Leute zu überwachen oder die Privatsphäre aufzulösen“. Vielmehr sollen die Daten genutzt werden, „um Probleme, in die wir uns im 21. Jahrhundert gebracht haben, lösen zu können, konstruktiv und wissenschaftlich – damit wir nicht darauf angewiesen sind, nur aus dem Bauchgefühl zu handeln, wenn wir komplexe Systeme managen“, sagte Thurner.

Weiterführende Informationen:
Complexity Science Hub Vienna (CSC)
Section for Science of Complex Systems (MedUni Wien)
Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten


Ausgewählte Publikationen:

S. Thurner, P. Klimek, M. Szell, G. Duftschmid, G. Endel, A. Kautzky-Willer, and D.C. Kasper
Quantification of excess-risk for diabetes when born in times of hunger, in an entire population of a nation, across a century
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 110, 4703-4707, (2013)

R. Hanel, S. Thurner, and M. Gell-Mann
Generalized entropies and logarithms and their duality relations
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 109, 19151-19154, (2012)

M. Szell and S. Thurner
How women organize social networks different from men: gender-specific behavior in large-scale social networks
Scientific Reports 3, (2013)

P. Klimek, Y. Yegorov, R. Hanel, and S. Thurner
Statistical detection of systematic election irregularities
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 109, 16469-16473, (2012)

R. Hanel, M. Pöchacker, M. Schölling, and S. Thurner
A self-organized model for cell-differentiation based on variation of molecular decay rates
PLoS ONE 7, e36679, (2012)

R. Hanel, S. Thurner, and M. Gell-Mann
Generalized entropies and the transformation group of superstatistics
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 108, 6390-6394, (2011)

Helmut Mitteregger:
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